Die Pandemie bestimmt seit über zwei Jahren unser Leben. Negative Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche sind deutlich. Der Ausnahmezustand vom Anfang ist längst zum Alltag geworden. Seit den ersten Studienergebnissen zu den Auswirkungen von Covid und Lockdown auf junge Menschen verfolge ich gespannt, besorgt und mit schwerem Herzen die Erkenntnisse, wie sich die Pandemie auf das Leben von jungen Menschen auswirkt.
Inhalt
Krisen im Lockdown
Insbesondere die Lockdowns stellten eine immense Belastung für junge Menschen dar. Konflikte daheim nahmen massiv zu. Gleichzeitig gab es nicht die Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen und Angebote draußen wahrzunehmen. Schulen und Kitas, in denen Erzieher*innen, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen blaue Flecken und Verletzungen bei den Kindern hätten auffallen könnten, waren geschlossen. Das Jugendamt konnte während der Lockdowns Kinder oder Jugendliche nicht mehr zu Hause besuchen. Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 schlugen Kinderärzt*innen Alarm: Die Verletzungen, die viele Kleinkinder hatten, sahen sie sonst in der Regel nach Verkehrsunfällen. Auch vor der Pandemie war die Familie statistisch betrachtet der gefährlichste Ort für Kinder; aber jetzt nahm elterliche Gewalt gegen Kinder in der Zeit der Lockdowns noch einmal massiv zu. Dies galt auch für sexualisierte Gewalt.
Anfang Januar 2002 hieß es, dass sich die Zahl von Jugendlichen nach einem Suizidversuch während des zweiten Lockdowns im Frühjahr 2021 im Vergleich zum ersten „vervierfacht“ habe. Bis zu 500 Teenager hätten versucht, sich das Leben zu nehmen. 93 stationäre Aufnahmen nach Suizidversuchen junger Menschen war den Studienmacher*innen bekannt. Kliniken, die an der Studie teilnahmen, stellten dies fest, und das waren 20% der Gesamtzahl aller Kliniken in Deutschland. Die schockierenden Zahlen basierten somit auf Hochrechnungen. Tatsächlich könnte diese Zahlen auch deutlich höher oder niedriger sein. Klar ist aber: Die Zahl der Suizidversuche bei Teenagern war erschreckend hoch.
Pandemie: Dauerbelastungen für Kinder und Jugendliche
Aber nicht nur die Lockdowns waren für junge Menschen belastend. Schwer war auch, dass kein Ende in Sicht war. Viele Hoffnungen auf eine Rückkehr zur „Normalität“ wurden enttäuscht. Es war offensichtlich, dass es nicht um den Verzicht für eine Weile ging, sondern dass der Ausnahmezustand gekommen ist, um zu bleiben. Niemand wusste, wann Covid unsere Leben nicht mehr einschränken würde. Dies erschwerte die Hoffnungen auf ein Ende und löste oft Hilflosigkeit bei Menschen aus. Natürlich auch bei Kindern und Teenagern. Sie erlebten, dass ihre Eltern, Lehrkräfte, und überhaupt Erwachsene (inklusive Politiker*innen) ratlos und machtlos waren. Ich frage mich, für wie viele Kinder und Jugendliche der damalige Zustand eine erlernte Hilflosigkeit mit sich bringen wird.
Die Pandemie, das Virus, all die Mutanten und das Wissen um die enorme Zahl an Menschen, die an Covid gestorben sind, bereiteten vielen Menschen Furcht. Bei jungen Menschen hat die Angst vor Corona noch zusätzliche Befürchtungen geschürt. Jugendliche fragten sich: Wird unsere Jugend einfach so an uns vorbeiziehen? Wie wird die Pandemie die Gesellschaft verändern? Was passiert politisch demnächst? Verstärkt sich die zunehmende Spaltung der Gesellschaft? Was wird im sozialen Bereich gekürzt werden, um die pandemiebedingten Ausgaben wieder einzusparen? Wird der Mädchentreff in meiner Straße womöglich geschlossen? Und der Klimawandel macht auch keineswegs Pause, nur weil Pandemie ist. Auch die Fridays for Future-Teenager haben ihre Ängste nicht vergessen.
Die Pandemie hatte und hat jedenfalls schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit – nicht nur während der Lockdowns. Auch die Kontaktbeschränkungen im Allgemeinen zählten dazu. Es gab zum Beispiel die Angst, Oma beim Besuch anzustecken. Oder die soziale Isolation innerhalb einer Familie, wenn ein*e Angehörige*r chronisch krank war und eine Ansteckung lebensgefährlich sein konnte. Und auch generell fühlten sich Kinder und Jugendliche einsamer als zuvor. Mediensucht nahm bei jungen Menschen massiv zu, insbesondere in Bezug auf Gaming and Social Media. Dies hatte wiederum zur Folge, dass alterstypische Entwicklungen nicht erfüllt werden konnten und psychosoziale Reifung nicht stattfinden konnte.
Pandemie und kindliches Zeitempfinden
Erschwerend kam hinzu, dass Kinder, je jünger sie sind, die Zeit länger erlebten als Erwachsene. Schon für große Menschen vergeht die Zeit anders, wenn der Beschäftigungen wegfallen, die sie sonst ausüben. Erwachsene aus meinem Umfeld sagen, dass die vergangenen zwei Jahre sich anfühlen wie vier. Für Kinder und Teenager ist das langsame Zeitempfinden extremer. Gefühlt dauert die Kindheit etwa die Hälfte des Lebens – als so lang wird sie empfunden. Kinder, die ein oder zwei Jahre alt sind, erleben einen Tag als etwa so lang wie Erwachsene einen Monat. Kinder und Erwachsene haben ein unterschiedliches Zeitempfinden. Ein Kindergartenkind hat bei einer Woche das gleiche Gefühl wie seine Eltern bei zwei Monaten.
Worauf ich mit diesem Exkurs hinaus will: Für Kinder zog sich die Pandemie so unfassbar viel länger als für Erwachsene. Aussagen wie „Im Sommer können wir wieder…“ sind sehr abstrakt für Kinder und noch unbeschreiblich lange hin. Wenn sich für Erwachsene die Pandemie unendlich anfühlt, dann für junge Menschen noch viel länger.
Pandemie verstärkt Ungleichheiten
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es tiefe strukturelle Ungerechtigkeiten auf verschiedenen Ebenen gibt. Eine von vielen ist die Schere zwischen Reich und Arm, die sich von Jahr zu Jahr weiter öffnet. Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wächst mit Kinderarmut auf (das sind ca. 2,8 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren). Seit Pandemiebeginn haben viele Menschen ihren Job verloren und/oder finden keinen. Die Kinder- und natürlich auch Elternarmut nimmt also noch weiter zu.
Viele sprechen nicht nur von den negativen Folgen der Pandemie, sondern zählen auch positive Folgen auf. Auch dazu habe ich einen Blogartikel geschrieben (Link zum Artikel). Expert*innen benennen es beispielsweise als „Vorteil durch die Pandemie“, dass junge Menschen, die technisch sehr versiert sind und über einen hohen Bildungsgrad verfügen, auf dem Arbeitsmarkt künftig bessere Chancen haben werden. Ich sehe das zwiespältig. Es bedeutet gleichzeitig, dass diejenigen, deren digitale Fähigkeiten nicht so ausgeprägt sind, und die bildungsmäßig benachteiligt werden – und dies hat zu einem enormen Teil mit der sozioökonomischen Lage ihrer Familie zu tun – es zunehmend schwerer haben. Sie werden wahrscheinlich „abgehängt werden“.
Kinder und Jugendliche haben auf jeden Fall gegenwärtig sehr viel zu jonglieren, und zwar mit schwereren Bällen, die einen mehr, die anderen weniger. An dieser Stelle mache ich einen kurzen Exkurs zu der US-amerikanischen klinischen Psychologin und Autorin Janina Scarlet, bekannt für ihren Ansatz der „Superhero Therapy“.
Die Superhero Therapy
Ein Bild, das Janina Scarlet mit ihrer Superhero Therapy verwendet, gefällt mir sehr gut. Es stellt ein Kind dar, das mit der einen Hand seine Hausaufgaben macht und in der anderen ein Schwert hält, mit dem es Drachen bekämpft. Sie schreibt:
„Manche Menschen stehen einfach auf und gehen zur Arbeit oder zur Schule. Andere müssen eine Menge Drachen bekämpfen, nur um dort anzukommen. Drachen sind jegliche Herausforderungen, denen wir ggf. entgegentreten so wie die Schwierigkeit aufzustehen, sich müde, ängstlich, traurig oder einsam zu fühlen, mit Menschen zu interagieren, die wir nicht mögen oder Dinge machen zu müssen, die wir nicht wollen. Jede dieser Herausforderungen ist ein Drache.
Stell dir vor, du bekämpfst gleichzeitig zwei oder sogar drei oder vier Drachen mit einer Hand, während du versuchst, mit der anderen deine Arbeit zu machen. Es ergibt Sinn, dass es länger braucht, deine Arbeit fertigzustellen oder sie nicht so gut wird, wie wenn du nicht eine große Gruppe von Drachen bekämpfen würdest. Ein Verständnis dafür zu haben, wie viel dir bereits täglich gelingt zu bewerkstelligen, macht einen Unterschied.“
(Scarlet, Janina: Superhero Therapy for Anxiety and Trauma. A Professional Guide with ACT and CBT-based Activities and Worksheets for All Ages. Jessica Kingsley Publisher, 2021. S. 99, Übersetzung aus dem Englischen von mir.)
So können wir uns gegenwärtig viele jungen Menschen vorstellen: Sie können sich nicht gut auf die Schule konzentrieren, weil sie so viele Belastungen haben, welche gleichzeitig ihre Energie und ihre Konzentration beanspruchen. Das war selbstverständlich schon vor der Pandemie so, aber mit Covid haben die Belastungen eben massiv zugenommen. Und Unterstützung kann nicht ausreichend gewährleistet werden.
Die Unterstützung ist selbst im Burn-Out
Wer mit Kindern und Jugendlichen zu ihren psychischen Belastungen gearbeitet hat (oder mit Erwachsenen, die ebendiese Belastungen aufarbeiten), weiß, wie schwerwiegend die Folgen sind. Dies ist Alltag von Millionen von Kindern und Jugendlichen, schon lange vor der Pandemie. In Pandemiezeiten haben die psychischen Belastungen nochmals zugenommen: Der Alkohol- und Drogenkonsum hat bei Erwachsenen seit Pandemiebeginn besorgniserregend zugenommen. Während der Lockdowns stieg die Gewalt von Eltern ihren Kindern gegenüber stark an. Wir erhalten eine Ahnung dessen, wie die Mehrfachbelastung von jungen Menschen aussah.
Gleichzeitig konnten diese Mehrfachbelastungen weniger aufgefangen werden. Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen und Erzieher*innen hatten und haben selbst kaum mehr Kraftreserven. Ich kann nur wiederholen: Auch dies war schon längst vor der Pandemie der Fall. Und jetzt hat sich alles so sehr verschlimmert, dass die Frage ist, wie es weiter gehen kann. Krankheitsfälle vom Schulpersonal nehmen massiv zu. Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen sind erschöpft und ausgebrannt. Die ihnen zugewiesenen Aufgaben sind überwältigend. Sie sollen die Kinder und Jugendlichen auffangen, Kindeswohlgefährdungen bemerken und melden, die Covid-Regelungen umsetzen und den liegen gebliebenen Schulstoff aufholen. Das ist nahezu unmöglich.
Ähnlich verhält es sich mit Eltern. Auch ihnen wird unendlich viel abverlangt, auch sie können nicht mehr. Das Distanzlernen überforderte viele. Die Anforderungen waren immens und hören nicht auf. Die benötigten Unterstützungspersonen für Kinder und Teenager bräuchten selbst ganz dringend eigene Unterstützung.
Resilienz und Ressourcen durch Pandemie
Die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche sind gravierend, und sie dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Mit offenen Augen für die Not, die junge Menschen erlebten und erleben, möchte ich dennoch nicht zu pessimistisch werden. (Junge) Menschen bringen auch erstaunliche Resilienzfaktoren und Ressourcen mit, selbst in überaus schweren Zeiten. Und menschliche Erfahrungen sind komplexer, als dass gesagt werden könnte, Kinder und Jugendliche würden ausschließlich leiden mit allem, was die Pandemie mit sich bringt.
Viele Krisen beinhalten eine Mischung aus Vor- und Nachteilen. Für manche Menschen überwiegen die Vorteile, für andere die Nachteile, je nach Zeitpunkt, Verfassung und einem Zusammenspiel an zahlreichen Faktoren. Die Probleme, mit welchen sich Kinder und Jugendliche derzeit konfrontiert sehen, sind nicht neu. Kein Suizidversuch eines jungen Menschen hat ausschließlich wegen des Lockdowns stattgefunden. Elterliche Gewalt gegen Kinder, substanzabhängige Eltern, Kinderarmut, Mediensucht und Burn-Out beim Fachpersonal sind keine neuen Phänomene; die Pandemie hat sie immens verschärft.
Viele wünschen sich den Zustand von vor der Pandemie zurück. Aber auch bevor Covid auf die Bildfläche trat, wurden mit dem Status quo zahlreiche Menschen(gruppen) abgehängt. Und deshalb hoffe ich, dass Grundlegendes überdacht wird, was Schule, Bildung und Soziales betrifft.
Jede Krise bietet auch eine Chance
Ich glaube außerdem, dass jede Krise auch eine Chance bietet. Der Neuropsychologe Gerald Hüther teilt diese Ansicht. Er erklärt, dass nichts schlimmer sei, als zu dem Zustand vor der Pandemie zurückzukehren und dass Covid eine Möglichkeit darstelle, aus starren Strukturen auszusteigen. Siehe dazu auch den Artikel „Vorteile der Pandemie für junge Menschen“ in diesem Blog.
Die Corona-Pandemie hatte zwar viele negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. Doch: In Krisen können Menschen Kräfte entwickeln, von denen sie zuvor nicht wussten, dass sie zu diesen fähig sind. Sie erwerben Kompetenzen, von denen sie später profitieren können. Anstatt nur defizitorientiert auf Kinder und Teenager zu schauen inmitten der Pandemie, könnte man auch den Blick um die Ressourcen erweitern. Wer mit Kindern arbeitet und/oder lebt, kann überlegen: Was hilft – und schadet nicht langfristig? Und dann mehr davon umsetzen.
Welche Erfahrungen machst du in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche negativen Auswirkungen der Pandemie sind dir aufgefallen?
Was sind deine Eindrücke?
Ich freue mich, wenn du deine Beobachtungen mit mir und uns teilst
sagt Christa