Der Umgang mit trauernden Kindern und Jugendlichen ist tabubehaftet und nicht einfach.
Meine Mama ist tot
Inaya ist 14 Jahre alt und geht in die 9. Klasse. Vor sechs Wochen ist ihre Mutter ganz plötzlich bei einem Autounfall gestorben. Ein Lastwagen knallte in das Auto ihrer Mutter, als diese gerade auf dem Weg zur Arbeit war. Sie war sofort tot. Inaya hatte morgens noch mit ihr gefrühstückt, alles war in Ordnung gewesen, ihre Mutter hatte gelacht und sie hatten Pläne fürs Wochenende gemacht. Ein paar Stunden später im Matheunterricht wurde sie aufgerufen und zur Schulsozialarbeiterin geschickt. Ihr Vater stand da, mit roten Augen. Plötzlich war nichts mehr wie zuvor.
Inaya konnte es nicht glauben. „Es ist sicher ein Missverständnis“, dachte sie den ganzen Tag. „Gleich kommt meine Mutter zur Tür herein und es klärt sich auf, dass Namen vertauscht wurden.“ Doch das passierte nicht.
Zuerst war Inaya im Schock. Sie funktionierte ganz automatisch, wie ein Roboter. Half ihrem Vater bei den Vorbereitungen der Beerdigung. Traf Entscheidungen, die keinem Teenager zugemutet werden sollten. Hielt eine Rede bei der Trauerfeier. Es war so viel los. Und als die Beerdigung vorbei war, wurde es auf einmal ganz still.
Inaya hatte das Gefühl, dass ihr Leben sich von einem auf den anderen Tag in einen Albtraum verwandelt hatte, aus dem sie einfach nicht mehr aufwachen konnte. Für sie war nichts mehr wie zuvor, ihre Welt war in eine Millionen Stücke zersprungen. Aber für alle anderen hatte sich nicht viel verändert, sie redeten über die Englisch-Klausur, über verliebt sein, als ob alles normal wäre.
Zusätzlich dazu, dass die Trauer und das Vermissen weh tat wie nichts zuvor, verhielten sich jetzt alle anderen auf einmal alle komisch: Ihre Freundinnen, die Lehrkräfte, Bekannte. Inaya hatte das Gefühl, als ob alle einen großen Bogen um sie herum machten. In den ersten Tagen hatten sie noch „Mein Beileid“ gesagt, geschrieben und so etwas, aber jetzt war eine seltsame Stille eingekehrt. Freundinnen sagten: „Ich geb’ dir Abstand in dieser schwierigen Zeit.“ Und Inaya dachte: „Meine Mama ist tot, es ist die schlimmste Zeit meines Lebens, und du gibst mir Abstand?!“
Waisen und Halbwaisen in Deutschland
Inaya ist eine von zahlreichen Kindern und Jugendlichen, die einen oder beide Elternteile verloren hat. Etwa 800.000 Kinder und Jugendliche leben in Deutschland, die Halbwaisen oder Vollwaisen sind. Statistisch gesehen haben Menschen, in deren jungen Jahren ein Elternteil gestorben ist, eine schlechtere Allgemeinbildung und Ausbildung. In der Regel beginnen sie in früheren Jahren mit einer Berufsausbildung und müssen eher finanziell für sich sorgen als Jugendliche, deren beide Eltern leben. Ich sehe folgende Erklärungen dafür: Zum einen sind junge Menschen mit verstorbenen Elternteilen einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt, was Konzentration und Lernen erschweren kann. Und zum anderen ist die Familie finanziell schlechter aufgestellt ohne das Einkommen eines Elternteils.
Doch auch Kinder und Teenager, deren beide Eltern leben, sind nicht geschützt vor Tod, Trauer und Verlust. Sie haben z.B. ein Geschwisterkind, eine*n Freund*in, Großeltern, Geschwister der Eltern, Stief- oder Pflegeeltern(teil) verloren. Wie bei fast allem wurde diese Entwicklung durch die Pandemie noch verschärft – unzählige Menschen sind an Covid gestorben. Insbesondere ältere oder immunschwache Personen sowie Menschen mit chronischen Erkrankungen und Vorerkrankungen überlebten eine Infektion mit Covid nicht. Und dann gab es noch zahlreiche Personen, die nicht an Covid starben, aber den Auswirkungen der Pandemie, wie verschobenen OPs und überfüllten Krankenhausbetten… Krebs, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Unfälle usw. machten in der Pandemie nicht Halt, auch wenn sie nicht die Schlagzeilen dominierten.
Es existieren meines Wissens nach keine Statistiken darüber, wie viele Kinder und Teenager (oder Erwachsene) trauern, weil sie einen ihnen nahestehenden Menschen verloren haben. Aber es gibt zahlreiche von ihnen und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass auch wir einige kennen. Da stellt sich die Frage, wie wir den Umgang mit diesen trauernden Kindern und Jugendlichen gut gestalten können.
Tabu Trauer
Tod und Trauer sind überall. Jede*r von uns wird eines Tages sterben und jede*r von uns wird im Laufe des Lebens geliebte Menschen verlieren. Und doch sind es Tabuthemen. In unserer Gesellschaft geht es viel darum, glücklich zu sein. Traurigkeit und schwere Zeiten werden häufig als etwas betrachtet, das überwunden werden muss, um noch stärker und besser daraus hervor zu gehen. Trauernde Menschen machen oft die Erfahrung, dass ihr Umfeld ihre Trauer nicht (aus)halten kann und versucht, sie aufzumuntern. Es gibt zudem eine große Unsicherheit darüber, wie mit Trauernden umgegangen werden kann – wir wollen nichts falsch machen. Was können Lehrer*innen, Erzieher*innen und Schulsozialarbeiter*innen also tun, wenn sie mit trauernden Kindern und Jugendlichen zu tun haben?
Umgang von Pädagog*innen mit trauernden Kindern und Jugendlichen
Ich berichtete zum Weltkindertag 2021 in diesem Blog über die Kinder aus dem Ahrtal. Ich erklärte, dass Kinder anders trauern als Erwachsene und dass es kindliche Trauerphasen gibt.
Im Folgenden habe ich 10 Dos und 7 Don’ts zusammengestellt für den Umgang mit jungen Menschen, die sich im Trauerprozess befinden. Du kannst das meiste auch übertragen auf erwachsene Personen und private Kontexte. Wichtig ist: Es gibt kein Patentrezept und nichts, was für alle Trauernden hilfreich ist. Was die eine Person mag und tröstet, verstimmt die nächste Person ganz gewaltig. Du wirst Fehler machen, und das ist okay. Bleib da und bleib im Kontakt.
10 Dos im Umgang mit trauernden Kindern/Jugendlichen
- Zugehen auf die junge Person und den Tod ansprechen: Viele Menschen denken, dass sie die trauernde Person nicht an den Verlust erinnern und zusätzlich traurig machen wollen. Aber Inaya wird jeden Tag und jede Stunde an den Tod ihrer Mutter denken. Es ist nicht so, dass sie sich nur dann an den Tod ihrer Mutter erinnert, wenn sie gefragt wird und daraufhin traurig wird – sie ist unfassbar viel verzweifelt gerade, das ist ihr neuer Alltag. Umgehe das Thema nicht, sondern benenne es beim Namen, auch wenn du dich ungeschickt damit fühlst.
- „Ich habe nicht die richtigen Worte“: Es ist okay, wenn du nicht weißt, was du sagen sollst und das zugibst. Manchmal gibt es nicht die treffenden Worte, und Sprache reicht für große Schicksalsschläge oft nicht aus. Es ist in Ordnung, wenn du dir unbehaglich vorkommst. (Betretene) Stille und keine Antworten zu haben ist auch okay.
- In der Trauer begleiten, nicht die Trauer beheben wollen: Trauer ist keine Krankheit, die geheilt werden muss. Zu trauern ist wichtig und braucht Raum, Begleitung, Unterstützung, Empathie und Zeit.
- Zeit geben: Es gibt keine Zeitleiste, wie lange jemand trauert. Trauer wird nicht für jeden Menschen kontinuierlich besser mit fortschreitender Zeit – sie verändert sich. Manche Personen leiden um so mehr, je mehr Zeit vergangen ist und je mehr klar wird, was für einen riesiges Loch – ja, Abgrund – die gestorbene Person im eigenen Leben hinterlassen hat.
- Trauerart respektieren: Menschen trauern unterschiedlich und gehen verschieden mit Verlust und Tod um. Manche Kinder oder Teenager versuchen, sich abzulenken und stürzen sich in Sport, Leistung, Videospiele etc., während andere ihren Emotionen viel Raum geben. Diese Phasen können sich auch abwechseln. Keine Umgangsweise ist richtig oder falsch, alle haben ihre Berechtigung. Aber: Wenn du bei dem betreffenden Teenager Missbrauch von Substanzen wahrnimmst (Alkohol, Drogen), selbstverletzendes Verhalten oder von einer Essstörung erfährst, ist eine Intervention nötig.
- Emotionen respektieren: Die Gefühle und Zustände von trauernden Kindern und Teeangern (wie auch Erwachsenen) können stark variieren. Das Umfeld erwartet vor allem von ihnen, traurig zu sein, aber Trauer kann auch die Gestalt von Verwirrung, Langeweile, Ärger, Erleichterung, Schuldgefühlen, Benommenheit, Unruhe, Ängstlich sein, Scham, Freude und Reizbarkeit annehmen. Jedes Gefühl, das eine (junge) Person hat in ihrem Trauerprozess, ist richtig und sollte von den Mitmenschen akzeptiert werden.
- Empathie und Gespräch anbieten: „Das ist furchtbar. Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte habe. Wenn du magst, kannst du gerne erzählen. Möchtest du darüber sprechen?“ Wenn die junge Person verneint, das respektieren und dabei belassen. Falls ein Gespräch entsteht, vor allem zuhören und Nachfragen stellen, nicht selber viel Redezeit beanspruchen.
- Respektieren, dass es wirklich so schlimm ist: Trauer macht Menschen Angst und deshalb versuchen eine Menge Leute, den Schmerz der trauernden Person kleiner zu machen, anstatt ihn zu unterstützen. Es geht darum, die Emotionen deines Gegenübers auszuhalten und zu halten. Spiegele die Gefühle der anderen Person. Wenn sie sagt: „Es ist so furchtbar“, darauf antworten: „Ja, das ist es.“
- Da bleiben: Führe dir vor Augen, dass ein Trauerprozess viel Zeit benötigt. Die Person wird nicht nach vier Wochen, drei Monaten oder einem Jahr wieder „die*der Alte sein“. Der Tod und Verlust ist jetzt ein permanenter Teil des Lebens der jungen Person. Das bedeutet nicht, dass sie für immer nur traurig sein wird, aber dass es kein Zurück zum „vorher“ gibt. Ein Trauerprozess ist nie abgeschlossen oder „fertig“. Das Ziel ist nicht, dass die junge Person nicht mehr traurig ist. Das beste, was du machen kannst, ist da zu bleiben – für den jungen Menschen ansprechbar zu sein, was immer ihn beschäftigt, was auch immer seine Anliegen ist, und zu respektieren, dass der Tod der geliebten Person auch nach Jahren weh tun und Spuren hinterlassen wird.
- Wissen weitergeben: Wenn Kolleg*innen oder Schüler*innen nach der trauernden Person fragen und ob es ihr jetzt eigentlich wieder besser geht, kannst du etwas sagen wie: „Sie hat bessere und schlechtere Tage. So ein großer Verlust ändert das gesamte Leben.“ Oder: „Trauer hört nie wirklich auf, Menschen tragen sie auf unterschiedliche Art mit sich herum.“
7 Don’ts im Umgang mit trauernden Kindern/Jugendlichen
- Ungefragte Ratschläge: Diese erzielen selten das gewünschte Resultat und sollten deshalb vermieden werden. Das trifft auch darauf zu, wenn du Tipps geben willst, wie die trauernde Person am besten mit ihrem Verlust umgehen soll.
- „Ich weiß wie du dich fühlst.“ Dieser Satz ist ein absolutes No-Go und damit fühlt sich die andere Person fast immer unverstanden und frustriert. Selbst wenn du deine Mutter im gleichen Alter gestorben sein sollte wie Inayas, kannst du nicht wissen, wie es ihr jetzt gerade geht. Nur sie weiß es. Jeder Mensch ist unterschiedlich und hat eine andere Geschichte. Eine Person ist Expert*in für das eigene Leben und die eigenen Gefühle, nicht die von anderen. Frag nach, wie es der Person geht und höre zu.
- Als Aufhänger für eine eigene Geschichte nehmen: Dies ist keine Gelegenheit, um der trauernden Person zu berichten, wer in deinem Leben bereits gestorben ist. Viele trauernden Menschen machen die Erfahrung, dass Personen ihnen in ihrem Trauerprozess Geschichten von gestorbenen Großeltern, Tanten oder Goldhamstern erzählen. Das wird „grief hijacking“, also „Kaperung von Trauer“ genannt. Deine Geschichte und deine Erfahrung ist wichtig, aber es gibt eine Zeit und einen Ort dafür, und die frisch trauernde junge Person ist nicht die richtige Ansprechperson. Es geht jetzt um deren Verlust.
- Das angeblich ‚Positive‘ herausstellen: „Wenigstens musste sie nicht leiden.“ „Zumindest hattet ihr viel Zeit miteinander.“ „Immerhin hattet ihr ein gutes Verhältnis zueinander.“ „Zum Glück ging es schnell.“ Das tröstet die trauernde Person überhaupt nicht. Im Gegenteil, es klingt so, als ob sie sich irgendwie glücklich schätzen könnte, und das ist nicht der Fall. Das trauernde Kind oder die junge Person hat jemanden wichtigen verloren und hat das Recht darauf, dass es ihr schlecht geht und alles richtig schlimm ist – ohne wenn und aber. Solche gut gemeinten Kommentare machen Trauernde oft (zu recht) wütend, denn so wird ihnen die Berechtigung für ihre Trauer indirekt abgesprochen.
- Phrasen verwenden: „Nichts geschieht ohne Grund.“ „Gott hat einen Plan für uns.“ „Das zeigt einem im Leben, was wirklich wichtig ist.“ „Alles geschieht zu unserem Besten, auch wenn wir es nicht verstehen.“ Solche Aussagen haben eine unsichtbaren und unausgesprochenen zweiten Satzteil wie „…deshalb ist es nicht so schlimm und du kannst aufhören, so traurig zu sein.“ Finger weg davon!
- Komplimente geben: Sag der trauernden Person nicht, wie gut sie das macht, wie wunderbar sie ist oder dass sie jetzt ganz stark sein muss. Das ist nicht hilfreich.
- Auf Tod und Trauer reduzieren: Die Verlusterfahrung des jungen Mensch ist ein wichtiger Teil von ihm – aber nicht der einzige, der ihn ausmacht. Inaya zum Beispiel liebt weiterhin Basketball, kann hervorragend zeichnen und ist der sozialste Mensch, den man sich nur vorstellen kann. Es tut ihr gut, Anerkennung zu bekommen für das, was sie gut kann und nicht auf „die arme Halbwaise“ reduziert zu werden.
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Was sind deine Erfahrungen für den Umgang mit trauernden Kindern und Jugendlichen?
Hast du selbst einen Trauerprozess durchgemacht? Was war hilfreich, was nicht? Gibt es etwas, das du dir dabei gewünscht hast? Was möchtest du weitergeben und mit anderen teilen?
Ich freue mich über deine Erfahrungen und Gedanken
sagt Christa Schäfer
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Buchtipps
- Megan Devine. Es ist okay, wenn du traurig bist. Warum Trauer ein wichtiges Gefühl ist und wie wir lernen, weiterzumachen. München: mvg Verlag 2018.
- Megan Devine. Es ist okay, wenn du traurig bist. Ein Trauer-Journal. München: mvg Verlag, 2021.
2 Antworten
Liebe Christa,
danke für deinen Blogartikel, der sowohl meine Erfahrungen als auch mein Wissen zu Traumapädagogik bestätigt. Ich musste Erfahrungen machen zu Tod von Eltern bei Schüler:Innen, Schülerr: Innen aus der Schulgemeinschaft und Kolleg:Innen. Trauer als Gefühl anerkennen, die neuen Bedürfnisse anerkennen und die individuelle Trauer anerkennen ist elementar. Es ist wichtig eigenen Umgang mit Trauer als individuell und richtig anzuerkennen. Jeder andere Weg, zu trauern auch. Das braucht keinen Vergleich keine gutgemeinten Tipps, sondern lediglich ein hohes Maß an Empathie.
Danke für diesen wichtigen Beitrag.
Trauer braucht Zeit,Raum und Anerkennung.
Hallo Guido, oh, dann hast du ja vielfältige Erfahrungen gemacht / machen müssen. Viele Personen sind hilflos in solchen Situationen. Super, wie du den Weg der Trauer in deinem Beitrag auf den Punkt bringst. Danke dir dafür sagt Christa