Jedes Jahr am 20. September ist Weltkindertag. 1954 wurde dieser Tag durch die Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Die Etablierung eines solchen Tages hatte zum Ziel, auf die Rechte der Kinder aufmerksam zu machen und sich für diese einzusetzen.
Ich möchte dieses Jahr den Kindertag 2021 nutzen, um auf die dramatische Lebenssituation der Kinder aus dem Ahrtal aufmerksam zu machen, die im Juli 2021 Haus, Heimat und Sicherheit verloren haben. Das ist ein Schicksal, das mir sehr nahe geht.
Das Hochwasser im Ahrtal
Am 14. Juli 2021 kam es zu einem Hochwasser in vielen Orten und Städten an der Ahr, einem Nebenfluss des Rheins. Die Kombination aus Dauerregen und Hochwasser war die Ursache dafür, dass in Teilen der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz 139 Menschen starben und 26 vermisst werden. 467 Gebäude wurden von der Flut mitgerissen, wovon mindestens 192 Wohnhäuser waren. Es wird geschätzt, dass von den 4.200 Gebäuden an der Ahr über 3.000 beschädigt wurden – das sind mehr als 70 %.
Das Ausmaß der Katastrophe ist unglaublich. Und dabei sehr ungleich verteilt: Manche Menschen haben alles verloren, während nur wenige Kilometer davon entfernt nichts von der Katastrophe zu sehen ist. Dies wurde nach den Sommerferien besonders sichtbar in der Schule – während manche Kinder, Jugendlichen und ihre Familien vor dem Nichts standen, waren andere im Urlaub am Strand weit weg.
Die Kinder vom Ahrtal
Worüber ich heute in erster Linie schreiben will, ist das Erleben von Kindern. Zunächst hatten sie etws 16 Monate lang mit den Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen, dann kam das Hochwasser. Wie für die Erwachsenen, so änderte sich auch das Leben von zahlreichen Kindern von einem Tag auf den anderen.
Ich stelle mir ein Kind im Kindergarten- oder Grundschulalter vor. Das Kinderzimmer gefüllt mit geliebten Kuscheltieren, mit Büchern, Lego-Steinen, den Rollerskates und vielen anderen Dingen. Das Bett, in das sich das Kind abends kuscheln kann. Der Geruch, der Heimat ist. Der Garten, in dem gespielt werden kann, in dem Tomaten und Blumen wachsen. Das Haus, in dem die ganze Familie wohnt. Die Kita, in der man alle Freunde morgens trifft. Die Schule, die nicht immer Spaß macht, die aber den Tag strukturiert. Und dann: Wusch, das Wasser ist da. Und nichts, aber auch gar nichts ist mehr so wie vorher.
Kinder sind in einer besonders verletzlichen Position. Sie sind „abhängiger“ als Erwachsene, befinden sich in bestimmten Entwicklungsphasen, konnten sich noch nicht genügend produktive Bewältigungsstrategien aneignen, wie Erwachsene sie idealerweise haben. Wirklich tragisch. Mit diesem Artikel möchte ich den Blick auf diese Kinder lenken.
Sie haben – und das in weiterhin anhaltender Pandemie – ihr Zuhause verloren, ihre Haustiere, Spielsachen, ihren Alltag, ihre Stabilität. Viele haben noch die Schreckensnacht vor Augen, in denen sich Menschen auf Hausdächer flüchteten, um nicht zu ertrinken. Manche Kinder haben Angehörige/Freund*innen/Bekannte verloren. Ein Kind fand eine tote Person im Garten, wie dessen Großmutter berichtete. Alles hat sich plötzlich für diese Kinder verändert.
Ebenso kann ich auf die Jugendlichen schauen. Auch ihnen geht es ähnlich. Das Jugendalter ist eine offene und selbstbestimmte Lebensphase. War es bereits durch Corona mit der Selbstbestimmtheit vorüber, so ist diese jetzt vollständig unmöglich durch all das Leid, die Schwierigkeiten und Erlebnisse, die durch die Flut auf die Jugendlichen zugekommen sind. Ich vermag das alles lediglich zu erahnen, vorstellen kann ich es mir nicht richtig.
Die Kinder, Jugendlichen und Menschen, die das Hochwasser erlebt haben, sie haben Schreckliches erlebt, sie trauern, sind traumatisiert. Glücklicherweise ändert sich jetzt durch vielfältige Förderung und vielfältiges Engagement das Leben dort wieder langsam. Doch der Einschnitt mit dieser furchtbaren Erfahrung bleibt.
Wie trauern Kinder eigentlich?
Trauerphasen von Kindern
Auf jeden Fall trauern Kinder anders als Erwachsene. Sie sind keine „kleinen Erwachsenen“, sondern ihr ganzes Erleben und ihre Gefühlswelt unterscheidet sich von dem großer Menschen. Es wird von Trauerphasen bei Kindern gesprochen – aber ebenso wie bei Erwachsenen, so trauert auch jedes Kind anders. Wie es trauert, das hängt u.a. von seiner Persönlichkeitsstruktur ab und was das Umfeld zulässt. Trauer verläuft darüber hinaus nicht linear, es werden Phasen übersprungen oder gehen durcheinander, es gibt Überschneidungen und Wiederholungen. Im Folgenden erläutere ich eine Version von kindlichen Trauerphasen:
- Schock: Zunächst befinden sich Kinder in einer Schockphase. Sie können das Geschehene nicht fassen. Oftmals sind sie sprachlos und innerlich erstarrt. Das Erlebnis wird geleugnet. Ein Beispiel hierfür ist die Erzählung einer Person, die in einem Raum arbeitete, wo die Menschen der Region Sachspenden mitnehmen konnten. Die Kinder sagten: „Das Spiel, das haben wir doch zu Hause“ und dahinter stand die Mutter, die den Kopf schüttelte: „Nein, es ist nicht mehr da, das haben wir nicht mehr.“ Die Kinder zeigten auf ein weiteres Spiel: „Aber das haben wir daheim“ und wieder antwortete die Mutter: „Das haben wir auch nicht mehr.“ Die Kinder konnten nicht fassen, dass etwas, das sie vor kurzer Zeit noch besessen hatten, nun plötzlich nicht mehr da sein sollte.
- Kontrollierte Phase: Nachdem die Schockphase abgeklungen ist (es kann bis zu ein paar Tagen dauern), beginnt die kontrollierte Phase. Die Kontrolle erfolgt dabei sowohl von und über sich selbst als auch durch außen, also durch die Erwartungshandlungen der Eltern/Erziehungsberechtigten, durch das Umfeld und deren Verhaltensanforderungen. Kinder versuchen, die Gewohnheiten der Erwachsenen nachzuahmen, verstehen die Verhaltensarten jedoch nicht, sind irritiert von den Normen und entfremden sich gewisser Weise von sich selber und der Situation.
- Regression: Kinder greifen auf Verhaltensmuster von früheren Zeiten zurück. Sie klammern sich an ihre Eltern, werden weniger selbstständig, sind ängstlicher und zeigen Kleinkindverhalten, so dass sie Nähe und Geborgenheit bekommen. Auch Aggressionen sind nicht selten, ggf. um Aufmerksamkeit zu erhalten oder auch, um sich vielleicht stärker zu fühlen in all der Hilflosigkeit. In jedem Fall ist die Regressionsphase von starker Emotionalität gekennzeichnet: Kinder weinen, schreien, haben Wutanfälle und klagen. Insbesondere im Vorschulalter und in der frühen Schulzeit beziehen Kinder Umstände, auf die sie keinen Einfluss haben, stark auf sich und auf ihr vermeintliches (Fehl)Verhalten. Sie glauben, irgend etwas gedacht oder getan zu haben, was das Unglück (mit)verursacht haben könnte. Dadurch entwickeln sie oftmals Scham- und Schuldgefühle und ziehen sich in sich zurück. Ebenfalls möglich sind magische Überzeugungen, dass wenn sie z.B. ihr liebstes Spielzeug hergeben, sie damit alles wieder gut machen können.
- Adaption: In dieser Phase integrieren Kinder die Trauer in ihr Ich. Möglicherweise ziehen sie innerliche Stärke aus der Verlusterfahrung und entdecken Fähigkeiten in sich, von denen sie vorher nichts wussten.
(siehe auch Margit Franz: Tabuthema Trauerarbeit. Kinder begleiten bei Abschied, Verlust und Tod. Don Bosco 2021)
Eltern und Kinder vom Ahrtal
Die Monate seit dem Hochwasser sind zu einer mittlerweile dauerhaften Ausnahmesituation geworden. Kinder erleben jetzt um so mehr, wie ihre Eltern belastet sind. Eltern, die ihnen nicht selten als so stark und beinahe zu allem fähig erscheinen, sehen sie nun immer wieder hilflos, ratlos und machtlos. Die Eltern wissen oft selbst nicht, wie es weitergeht. Sofern sie ein eigenes Haus hatten, stellt sich die Frage: Kann es saniert werden, oder muss man es abreißen und neu aufbauen? Wenn alles aus dem Haus weg ist, dann müssen Erwachsene u.a. neue Dokumente beantragen, sie haben Behördengänge vor sich und unzählig viele Dinge zu organisieren. Zusätzlich zu dem hohen organisatorischen Aufwand kommt, dass die Situation für Eltern psychisch belastend ist. Zuvor bestehende psychische Probleme werden oftmals noch verstärkt. Es kann dazu kommen, dass Kinder mehr Verantwortung übernehmen (müssen), als es ihrem Alter entspricht und dass es zu einer Parentifizierung kommt (wenn Kinder die Rolle von ihren Eltern übernehmen und die Verpflichtung spüren oder die Aufforderung haben, Zuständigkeiten den Eltern gegenüber zu übernehmen).
Bei allem, um was Eltern sich jetzt kümmern und organisieren müssen, werden Kinder nicht selten als „im Weg“ empfunden. Manche Erwachsenen erwägen, ihre Kinder auf eine Freizeit zu schicken, um selber mehr zu schaffen und um den Kindern Ablenkung zu ermöglichen. Doch insbesondere jetzt brauchen Kinder ihre Eltern/Erziehungsberechtigten ganz besonders. Sie benötigen emotionale Wärme und Stabilität. Deshalb sind Tagesangebote vor Ort eine Möglichkeit, um Eltern einerseits zu entlasten und ihnen den Freiraum für das Organisatorische zu geben, aber gleichzeitig die Kinder auch nicht in einer für sie schweren und in vielen Fällen traumatischen Zeit ohne elterliche Unterstützung allein zu lassen.
Fünf Tipps für Eltern in Krisenzeit
Auch wenn es schwer fällt:
- Vermittle Kindern als wichtigste Botschaft: Es ist vorbei, und ihr seid in Sicherheit. Gleichzeitig solltest Du den Schreckenserfahrungen, der Angst, der Trauer, der Wut und und der breiten Palette an Gefühlen Deiner Kinder Raum geben – also nicht ausschließlich nach vorne sehen, sondern auch die Vergangenheit in den Blick nehmen.
- Führe mit Deinen Kindern gemeinsame Rituale ein. Insbesondere in dieser von Unsicherheit geprägten Zeit ist das Halt gebend. Selbst viele Kitas und Schulen sind ja zerstört oder nicht nutzbar, und so ist auch dieser Teil von Stabilität und Normalität nicht mehr vorhanden. Bleib mit Deinen Kindern in Kontakt und schau, was ihnen Sicherheit gibt.
- Eltern wollen oftmals stark sein für ihre Kinder und ihr eigenes Leid verstecken, aber das ist nicht unbedingt das Beste. Kinder sind sehr feinfühlig und bekommen alles mit – mehr, als Erwachsene denken. Sie wollen nicht noch zusätzliche Sorgen bereiten, aber sie brauchen Informationen und wollen ernst genommen werden. Zwar kannst Du Deine Kinder nicht schützen vor den Konsequenzen der Katastrophe, aber Du kannst ihre Fragen beantworten. Wenn Deine Kinder Fragen stellen, dann antworte so ehrlich und wahrheitsgetreu (und dabei altersentsprechend) wie möglich. Bleibe geduldig, wenn Kinder immer gleiche oder ähnliche Fragen stellen. Diese Fragerituale sind wichtig, denn damit können sie ihre neue Realität besser fassen und verstehen.
- Kinder glauben in einem bestimmten Alter sehr stark, Schuld an etwas zu haben. In ihrer Vorstellung haben sie irgend etwas getan, was das Unglück verursacht hat, z.B. sich nicht an Regeln gehalten, etwas Gemeines gedacht zu haben o.ä.. Das mag sich für Erwachsene unsinnig anhören, aber diese Schuldgefühle müssen ernst genommen werden. Höre Deinen Kindern gut zu und stelle Dich solchen Gesprächen, denn nur so können Schuldphantasien abgebaut werden und nur so kannst Du dem etwas entgegensetzen.
- Nimm das kindliche Erleben ernst. Der Verlust von einem Kuscheltier oder Haustier wird von Kindern häufig als unfassbar schlimm erlebt – ebenso schrecklich oder noch furchtbarer als der Tod eines Verwandten (auch je nachdem, wie das Verhältnis zu der verwandten Person war). Nicht selten reagieren Erwachsenen mit Unverständnis: Es war doch nur ein Kuscheltier, warum ist das Kind darüber untröstlich? Aber Kuscheltiere sind Wesen, die immer für die Kinder da sind, die ihnen stets zuhören, denen sie alle Sorgen, Erfahrungen und Geheimnisse erzählen können – auch Dinge, die sie mit sonst niemandem teilen können. Geliebte Plüschtiere sind ein Familienmitglied für Kinder und vermitteln ihnen Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität. Kinder können sich mit ihrer Hilfe regulieren, können sich an ihnen festhalten – insbesondere in schweren Zeiten, in denen es viel Unsicherheit gibt.
Gerne möchte ich an dieser Stelle auf ein Angebot aufmerksam machen, das ich kürzlich entdeckt habe, und das ich total unterstützenswert finde. Es baut auf dem Trost durch Kuscheltiere auf.
Unterstützungsmöglichkeit mit „Schnuffi und Co.“
Die Initiative „Schnuffi und Co. sehnlichst vermisst – Kuscheltiere nach der Flut“ kann ich allen wärmstens an Herz legen. Die Initiative versucht, Kindern ihre Plüschtiere zurückzugeben, die im Hochwasser verloren gegangen sind. Falls das nicht von Erfolg gekrönt ist, so sollen die Kinder zumindest ein Kuscheltier bekommen, das Ähnlichkeiten mit ihrem geliebten Plüschtier hat. Zahlreiche Erwachsene wie Kinder spenden Kuscheltiere für die Kinder im Ahrtal, und viele Plüschtiere konnten bereits gefunden werden.
Falls du die Initiative unterstützen möchtest, nimmst ein Foto von dem Kuscheltier auf, das du spenden möchtest, und stelle dieses Bild anschließend auf die Facebook-Seite des Projektes. Wenn ein Kind sich das Plüschtier aussucht, kannst du es direkt an dieses Kind auf dem Postweg versenden.
Ich wünsche den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Ahrtal von allen Seiten Unterstützung und warme, freundliche Begegnungen mit Menschen und (alten wie neuen) Kuscheltieren.
Viel Kraft, Mut und Zuversicht wünscht
Dr. Christa Schäfer