Gerechtigkeit in der Praxis: Das Schokobonbon-Experiment

Geöffnetes Schokobonbon mit Playmobil-Figur

Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, in der Willkommensklasse einer Grundschule zu unterrichten. Für diejenigen, die hiermit nicht vertraut sind: Eine Willkommensklasse ist oft der erste Anlaufpunkt für neu angekommene Schüler:innen, die noch nicht ausreichend Deutsch sprechen, um dem regulären Unterricht zu folgen. Die Altersspanne variiert, in dieser Klasse zwischen 9 und 13 Jahren. Die Schüler:innen lernen in den Willkommensklassen hauptsächlich die deutsche Sprache. In dieser besonderen Umgebung haben wir den Klassenrat eingeführt, ein Format, das den Schüler:innen eine Plattform bietet, um ihre Gedanken, Gefühle und Bedenken auszudrücken.

Ein Thema, das immer wieder von den Schüler:innen angesprochen wurde, war das Thema der Gerechtigkeit. Es schien, als ob diese jungen Menschen, die aus so vielen verschiedenen Kulturen und Hintergründen kamen, ein tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit haben. Dies inspirierte mich zu einem „Experiment“.

Ich brachte eine Schachtel mit einer Mischung aus Schokobonbons der Marke „Celebrations“ mit. Ohne den genauen Inhalt oder die Anzahl der Bonbons zu enthüllen, stellte ich die Schachtel in den Stuhlkreis und sagte den Schüler:innen, die Schokolade sei für sie, und ihr Aufgabe sei es, die Schokolade gerecht untereinander aufzuteilen. Daraufhin durchlebte ich mit den Schüler:innen einen kreativen Prozess, der unter dem Stichwort der Gerechtigkeit stand.

Wer erhält ein Schokobonbon?

Zu diesem Zeitpunkt waren 9 Schüler:innen anwesend, während 2 krankheitsbedingt fehlten. Zusätzlich zu den Schüler:innen waren auch zwei Erwachsene da – die Klassenlehrerin und ich. Und zusätzlich ganz kurz die stellvertretende Klassenlehrerin, die zufällig den Anfang unseres Experiments mitbekommen hatte und neugierig war, wie es sich entwickeln würde.

Die Schachtel enthielt 24 Schokobonbons, die sich in 5 verschiedene Sorten aufteilten. Die Herausforderung war nicht nur, wie man die Schokolade gleichmäßig verteilt, sondern auch, wie man sicherstellt, dass jede:r seine Lieblingssorten erhält.

Es war faszinierend zu beobachten, wie die Schüler:innen miteinander kommunizierten, verhandelten und Entscheidungen trafen. Einige waren der Meinung, dass die Schokolade einfach durch die Anzahl der Anwesenden geteilt werden sollte, während andere darauf bestanden, dass auch die beiden kranken Schüler:innen berücksichtigt werden müssten. Und was ist mit den Erwachsenen? Erhalten diese auch einen Anteil?

Wer darf die Bonbons zählen?

Nach dem Austausch über diese Fragen der Verteilung, kam die nächste Herausforderung: Wie viele Schokobonbons waren überhaupt in der Schachtel? Viele Schüler:innen wollten zählen, doch als sich ein Schüler vordrängte, wurde schnell klar, dass dies nicht die gerechteste Methode war. Also wurde eine Lösung gefunden: Eine Schüler:in sollte beginnen, einen Schokobonbon aus der Schachtel nehmen, eine Ziffer weiter zu zählen und dann den Bonbon neben die Schachtel legen. Dieser Prozess wurde im Uhrzeigersinn fortgesetzt, bis alle Bonbons gezählt waren. Das Ergebnis: 24 Schokobonbons.

Nun stand die Klasse vor einem neuen Dilemma. Wenn jede:r zwei Bonbons bekäme, wären 18 vergeben und 5 übrig. Wenn jeder nur eines bekäme, wären viele übrig. Die Schüler:innen begannen, kreative Lösungen zu diskutieren und zu verhandeln. Das zentrale Thema war immer wieder: „Was ist gerecht?“ Es war beeindruckend zu sehen, wie engagiert und leidenschaftlich sie nach einer fairen Lösung suchten.

Wie ist das mit den verschiedenen Geschmackssorten?

Die erste Entscheidung war, dass jede:r zunächst einen Schokobonbon nehmen sollte. Aber es gab ein weiteres Problem: Es gab verschiedene Sorten. Wie konnte sichergestellt werden, dass jeder seine Lieblingssorte bekam? Die Lösung war einfach, aber genial: Jeder nahm ein Bonbon heraus, legte es vor sich auf den Boden und alle schauten gespannt zu, ob am Ende jeder seine Lieblingssorte hatte. Die Spannung war greifbar, und als der letzte Bonbon genommen wurde, war die Erleichterung groß: Jede:r hatte seine Lieblingssorte!

Nach dieser ersten Runde waren alle zufrieden, aber es gab noch die weiteren Bonbons in der Schachtel. Ein erneutes Zählen ergab, dass noch 14 übrig waren. Die Schüler:innen entschieden, dass jede:r noch ein weiteres Bonbon nehmen könnte, wobei genug für die beiden abwesenden Schüler:innen übrig bleiben sollten. Diesmal begann die Person, die in der vorherigen Runde zuletzt dran war, und es wurde gegen den Uhrzeigersinn weitergearbeitet.

Zu meiner Überraschung bekamen fast alle wieder ihre Lieblingssorte. Doch als die Schachtel leerer wurde, mussten einige Schüler:innen Kompromisse eingehen und ihre zweitliebste Sorte nehmen. Der letzte Schüler hatte leider Pech und bekam nur ein Bonbons, das er nicht mochte. In einem Akt der Solidarität bot ihm ein anderer Schüler einen Tausch an, so dass am Ende alle zufrieden waren.

Nachdem alle Schokobonbons vor den Schüler:innen auf dem Boden lagen, gab ich das Startsignal zum Öffnen. Doch was dann geschah, konnte niemand vorhersehen. Eine Schülerin tauschte blitzschnell ihren Schokobonbon gegen einen anderen aus der Mitte aus. Da ich den zurückgelegten Bonbon bevorzugte, griff ich schnell nach dem Bonbon, das sie abgelegt hatte. Zu meiner großen Überraschung war dieser Bonbon bereits geöffnet, möglicherweise sogar angeknabbert oder zumindest an einem Ende beschädigt.

Ein Bonbon ist bereits geöffnet

Die Situation eskalierte sofort. Ich stoppte das Öffnen der Bonbons, um das Problem zu klären. Die Meinungen waren gespalten: Die eine Hälfte der Klasse behauptete, das Mädchen habe den Bonbon geöffnet und probiert, während die andere Hälfte, einschließlich uns Lehrerinnen, nichts davon bemerkt hatte. Das Mädchen selbst sagte, sie hätte das Bonbon nicht geöffnet. In diesem Moment musste ich mediativ vermitteln und erklärte, dass es oft verschiedene Perspektiven auf eine Situation gibt. Ich betonte, dass ich dem Mädchen glaubte. Die Aufregung war dennoch groß, bis sich letztlich alle darauf einlassen konnten, dass es zu einer Situation durchaus zwei Sichtweisen geben kann und wir die „Wahrheit dieser Situation“ nicht zurück verfolgen könnten.

Das neue Problem: Niemand wollte den geöffneten Bonbon (natürlich nicht), also wurde er aussortiert. Das hieß, dass über die restlichen Bonbons erneut diskutiert werden musste. Die Entscheidung: Die zweite Klassenlehrerin erhält keinen Bonbon, sie ist Erwachsene und war nicht mehr im Unterricht anwesend. .

Glücklicherweise „durfte“ ich mir einen neuen Bonbon aussuchen, und alle konnten endlich ihre Schokolade genießen. Jetzt waren nicht mehr viele Bonbons in der Schachtel. Zudem waren die Schüler:innen mit dem Verzehr der Bonbons beschäftigt. Ein Schüler wollte und durfte mit Zustimmung aller die verbleibenden Bonbons zählen. Es stellte sich heraus, dass noch 4 Bonbons übrig waren. Diese sollten am nächsten Tag an die beiden fehlenden Schüler:innen verteilt werden.

Gerechtigkeit in der Praxis: Mein Resumé

Am Ende dieses langen Prozesses, der insgesamt 60 Minuten dauerte, waren alle zufrieden. Es gab viele Diskussionen, viele Überlegungen und viel Kommunikation. Für einige Schüler:innen aus der Willkommensklasse war dies besonders herausfordernd, da sie noch nicht lange in Deutschland waren und die Sprache noch nicht gut beherrschten.

Doch eines war sicher: Die Lektion über Gerechtigkeit, die sie an diesem Tag gelernt hatten, würden sie so schnell nicht vergessen. Es war ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie ein einfaches Schokobonbon-Experiment tiefgreifende Gedanken und Diskussionen auslösen kann.

Und dieses einfache Experiment war nicht nur eine lehrreiche Erfahrung in Bezug auf Gerechtigkeit und Fairness, sondern auch eine wunderbare Gelegenheit, Teamarbeit, Kommunikation und Empathie zu fördern. Es zeigte, dass Gerechtigkeit oft mehrdimensional ist und dass es nicht immer einfache Antworten gibt. Es zeigte auch, dass mit Kommunikation und Kompromissbereitschaft selbst komplexe Probleme gelöst werden können. Mit Respekt, Verständnis und Zusammenarbeit gibt es Wege, die für alle fair sind.

Alle Schüler:innen gingen nicht nur mit einem süßen Geschmack im Mund, sondern auch mit dem befriedigenden Gefühl, gemeinsam eine faire Lösung gefunden zu haben.

Was sagst du zu der hier durch die Schüler:innen gefundene Gerechtigkeit?

Fragt dich Christa

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4 Antworten

    1. Hallo Kati,
      freut mich sehr, dass dir das Experiment gefallen hat. Ich habe schon von einigen Leserinnen gehört, die dies ebenfalls in ihrem Unterricht durchgeführt haben. Vielleicht hast du ja auch mal die Gelegenheit dazu. Dann würde ich mich freuen, wenn du darüber berichtest. Beste Grüße von Christa

  1. Hallo Christa,
    ich habe das Experiment letzte Woche in einer 6. Klasse ausprobiert.
    Mit zwei Schachteln „Celebrations“ bestückt, habe ich die Schüler*innen im Anschluss meines Konflikttrainings nach dem Unterschied zwischen gerecht und fair gefragt und sie nach reger Diskussion der beiden Begriffe in zwei Gruppen aufgeteilt:
    Jungen und Mädchen.
    Es war spannend zu sehen, wie unterschiedlich beide Gruppen rangegangen sind, um zu einer fairen Lösung zu kommen. Die eine Gruppe kam innerhalb von wenigen Minuten zum Ziel, die andere Gruppe benötigte mehr Zeit. Am Ende zeigten sich alle zufrieden, und der Klassenlehrer nutzte die Gelegenheit, mit den Schüler*innen über die gerechte und oder faire Verteilung von Noten zu diskutieren. Sehr spannend!
    Ich danke dir für diese tolle Anregung, die bestimmt nicht zum letzten Mal zum Einsatz gekommen ist.
    Viele Grüße
    S. Mohns

    1. Hallo S. Mohns,

      vielen Dank für deinen Kommentar, und dass du deine Erfahrungen mit dem Experiment geteilt hast! Es ist wirklich spannend zu hören, wie du das Konzept in der 6. Klasse umgesetzt hast. Und auch die Variante finde ich super interessant, in der du die Schüler*innen nach Jungen und Mädchen aufgeteilt hast.

      Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Lösungsstrategien der beiden Gruppen haben sicherlich wertvolle Einblicke in Gruppendynamiken und Entscheidungsfindungsprozesse gegeben. Es ist perfekt, dass beide Gruppen letztendlich zu einer Lösung kamen, mit der alle zufrieden waren. Dies zeigt, dass es viele Wege gibt, um zu einem gerechten und fairen Ergebnis zu kommen.

      Die anschließende Diskussion über die gerechte und faire Verteilung von Noten ist ebenfalls ein sehr wichtiger Aspekt. Es ist großartig, dass der Klassenlehrer die Gelegenheit genutzt hat, um dieses Thema anzusprechen, da es direkt mit den Erfahrungen der Schüler*innen im Schulalltag verknüpft ist.

      Ich freue mich sehr, dass das Experiment für dich inspirierend war und hoffe, dass es auch in Zukunft zu spannenden Diskussionen und Lernmomenten in den von dir betreuten Klassen führen wird. Solche praktischen Übungen sind eine wunderbare Möglichkeit, wichtige Konzepte greifbar und verständlich zu machen.

      Weiterhin viel Erfolg und Freude bei deiner Arbeit
      wünscht dir Christa

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