Was bitte schön hat der Prozess der Kreativität mit der Mediation zu tun?
Diese Frage wird mir tatsächlich öfters gestellt, wenn ich über Mediation berichte. Und jedes Mal erinnere ich mich dann an Mihály Csíkszentmihályi (1934 – 2021), den ungarisch-amerikanischen Psychologen, der die wissenschaftliche Erforschung von Glück und Kreativität maßgeblich vorantrieb. Er ist vor allem bekannt für die Prägung des Begriffs „Flow“ – jenen mentalen Zustand, in dem man sich vollständig in einer Aktivität verliert und alles um sich herum vergisst. In diesem Artikel tauchen wir tiefer in die Verbindung zwischen Kreativität, Flow und Mediation ein.
Kreativität und Flow
Kreativität ist ein Schlüsselwort, das in vielen Bereichen unseres Lebens eine Rolle spielt. Sie ist der Funke, der Innovation antreibt, und das Werkzeug, das uns hilft, komplexe Probleme zu lösen. In der Mediation, einem Prozess, der darauf abzielt, Konflikte durch Kommunikation und Verhandlung zu lösen, spielt Kreativität ebenfalls eine entscheidende Rolle. Insbesondere in der vierten Phase der Mediation wird sie zu einem unverzichtbaren Instrument.
Doch wie genau hängt Kreativität mit dem Flow-Zustand zusammen, den Mihály Csíkszentmihályi so eindrucksvoll beschrieben hat? Und wie kommt die Kreativität in die Mediation?
Grundlagen der Mediation
Mediation ist ein strukturierter Prozess, bei dem eine neutrale dritte Person, die Mediatorin oder der Mediator, den Parteien hilft, einen Konflikt durch Kommunikation und Verhandlung zu lösen. Ziel ist es, eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu finden, ohne den Weg über formelle rechtliche Schritte zu gehen.
Die Mediation gliedert sich in verschiedene Phasen, von denen jede ihre eigene Bedeutung und Funktion hat:
Sichere Rahmen = Erste Phase: Hier wird der Sichere Rahmen, der Grundstein für den Mediationsprozess gelegt. Die Parteien lernen Mediator:in und Mediation kennen, und es werden die Regeln und der Rahmen für den Prozess festgelegt.
Konfliktdarstellung = Zweite Phase: In dieser Phase geht es darum, die Positionen der Parteien zu erfassen. Es wird versucht, den Konflikt zu verstehen und die Themen für die Mediation aufzunehmen.
Konflikterhellung = Dritte Phase: Hier soll ein tieferes Verständnis für die Ursachen des Konflikts entwickelt werden. Es ist meist die emotional intensivste Phase und es wird nach den Interessen und Bedürfnissen geschaut, die hinter dem Konflikt liegen.
Lösungssuche und Vereinbarung = Vierte Phase: In dieser Phase werden Lösungsansätze gesucht, diskutiert und festgeschrieben. Dabei kommt insbesondere auch die Kreativität zum Tragen. Es geht darum, kreative und mitunter unkonventionelle Lösungen zu finden, die den Bedürfnissen und Interessen aller Beteiligten gerecht werden.
Die vierte Phase ist zukunftsweisend, da sie Flexibilität, Offenheit und eben jene Kreativität erfordert, um über den Tellerrand hinauszuschauen und Lösungen zu finden, die vielleicht nicht offensichtlich sind. Es ist diese Phase, in der der Flow-Zustand eine besonders wichtige Rolle spielen kann.
Mihály Csíkszentmihályi und die Flow-Theorie
Ich erinnere mich stets gerne daran, dass ich während meines Studiums die Freude hatte, Mihály Csíkszentmihályi persönlich zu begegnen. Seine Präsenz und seine Art, über das Konzept des Flow zu sprechen, waren fesselnd und inspirierend. Dieses Treffen hinterließ einen tiefen Eindruck bei mir und verstärkte meine Faszination für die Flow-Theorie und ihre Anwendungen in verschiedenen Lebensbereichen, einschließlich der Mediation.
Mihály Csíkszentmihályi hat das Konzept des „Flow“ in den 1970er Jahren eingeführt. Er beschrieb es als einen Zustand völliger Vertiefung und Konzentration in einer Tätigkeit, in dem das Individuum das Gefühl für Zeit und Selbst verliert und sich völlig in der Aufgabe aufgeht.
Definition des Flow-Zustands:
Flow tritt auf, wenn eine Person eine Tätigkeit ausführt, die weder zu einfach noch zu schwierig ist, und wenn ihre Fähigkeiten genau den Anforderungen der Tätigkeit entsprechen. In diesem Zustand sind Menschen oft hoch konzentriert, motiviert und erleben ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit.
Die Bedeutung des Flow-Zustands für Kreativität und Produktivität:
Flow ist nicht nur ein Zustand des Wohlbefindens, sondern auch ein Zustand hoher Produktivität und Kreativität. Wenn man im Flow ist, sind die kognitiven Funktionen oft auf ihrem Höhepunkt. Dies ermöglicht ein tieferes Denken, bessere Problemlösungsfähigkeiten und die Fähigkeit, komplexe Ideen zu verknüpfen. Es ist dieser Zustand, der oft zu kreativen Durchbrüchen und innovativen Lösungen führt.
Anwendung in der Mediation:
In der Mediation kann der Flow-Zustand sowohl für die Mediator:innen als auch für die Parteien von Vorteil sein. Wenn sich alle Beteiligten im Flow befinden, können sie effektiver kommunizieren, besser zuhören und kreative Lösungen für den Konflikt finden. Der Flow-Zustand kann auch dazu beitragen, dass die Parteien durch die dritte Phase in den Zustand versetzt wurden, in der vierten Phase konstruktiv und lösungsorientiert zu arbeiten.
Damit ist die Flow-Theorie von Mihály Csíkszentmihályi nicht nur ein faszinierendes Konzept für die Psychologie allgemein, sondern auch ein wertvolles Phänomen in der Mediation. Leider wurde der Flow in der Mediation bisher noch nicht erforscht, doch meiner Ansicht nach lohnt es sich, sich weiter mit dieser Theorie zu beschäftigen.
Kreativität in der vierten Phase der Mediation
Die vierte Phase der Mediation, oft als die „Lösungsfindungsphase“ bezeichnet, ist der Moment, in dem die Parteien gemeinsam nach Lösungen suchen, die ihren Bedürfnissen und Interessen gerecht werden. Es ist die Phase, in der Kreativität am meisten gefragt ist.
Anwendung von Kreativität: In dieser Phase geht es nicht nur darum, offensichtliche Lösungen zu finden, sondern auch darum, neue und innovative Ansätze zu entwickeln. Dies kann bedeuten, dass man unkonventionelle Ideen in Betracht zieht oder bestehende Lösungen in einem neuen Licht betrachtet.
Beispiele für kreative Lösungsansätze: In einigen Mediationsfällen kann dies bedeuten, dass man neue Wege findet, Ressourcen zu teilen, Kompromisse in bisher ungeahnten Bereichen zu finden oder sogar völlig neue Lösungen zu schaffen, die vorher nicht in Betracht gezogen wurden.
Vorteile der Anwendung von Kreativität: Kreative Lösungen können oft zu nachhaltigeren und zufriedenstellenderen Ergebnissen führen, da sie besser auf die individuellen Bedürfnisse der Parteien zugeschnitten sind.
Flow und Kreativität in der Mediation
Wie bereits erläutert, fördert der Flow-Zustand die Kreativität. In der Mediation kann diese Verbindung besonders wertvoll sein. Meine Gedanken für die Verbindung zwischen Flow, Kreativität und Mediation:
Förderung des Flow-Zustands:
Mediator:innen können Techniken anwenden, um den Flow-Zustand bei den Parteien zu fördern. Dies kann durch die Schaffung einer unterstützenden Umgebung, die Minimierung von Ablenkungen und die Anpassung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabe an die Fähigkeiten der Parteien geschehen.
Vorteile des Flow-Zustands in der Mediation:
Wenn die Parteien im Flow sind, können sie effektiver kommunizieren, besser zuhören und sind offener für kreative Lösungen. Dies kann den Mediationsprozess beschleunigen und zu besseren Ergebnissen führen.
Fazit
Kreativität und Flow sind zwei mächtige Konzepte, die meiner Ansicht nach in einer Mediation eine wichtige Rolle spielen können. Die vierte Phase der Mediation, in der kreative Lösungen entwickelt werden, kann durch den Flow-Zustand erheblich bereichert werden. Mediatoren, die die Prinzipien des Flow verstehen und anwenden, können den Mediationsprozess effektiver gestalten und zu nachhaltigeren Lösungen beitragen. Es lohnt sich, diese Konzepte weiter zu erforschen und in der Praxis anzuwenden. So könnten die Vorteile von Kreativität und Flow in der Mediation voll ausgeschöpft werden.
Auch in einer Schulmediation kann ein Flow entstehen. Dazu mehr in einer folgenden kleinen Geschichte, die – zugegebenermaßen fiktiv ist und sich dennoch – so oder so ähnlich abgespielt haben könnte …
Eine Schulmediation im Flow
In der Aula der Johann-Wolfgang-Schule herrschte an diesem Morgen eine angespannte Stille. Zwei Schüler, Tim und Lena, saßen sich gegenüber, die Wut und Frustration in ihren Augen deutlich sichtbar. Zwischen ihnen saßen Mia und Lukas, zwei ausgebildete Schülermediator:innen, die die Aufgabe hatten, bei der Lösung des Konflikts zu helfen.
Der Streit zwischen Tim und Lena war wegen eines gemeinsamen Projekts in der Kunstklasse entstanden. Beide hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, wie das Projekt aussehen sollte, und keiner war bereit, nachzugeben.
Mia begann das Gespräch, indem sie beide Parteien daran erinnerte, dass das Ziel der Mediation nicht darin bestand, einen Schuldigen zu finden, sondern gemeinsam eine Lösung zu suchen. Lukas fügte hinzu, dass es wichtig war, offen und respektvoll miteinander zu kommunizieren.
Während die Mediation fortschritt, begannen alle Beteiligten, sich immer mehr in den Prozess zu vertiefen. Die anfängliche Anspannung wich einer konzentrierten Atmosphäre, in der jeder aufmerksam zuhörte und nachdenklich antwortete. Mia und Lukas stellten gezielte Fragen, die Tim und Lena dazu anregten, über ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse nachzudenken.
Ohne es zu merken, befanden sich alle vier in einem Flow-Zustand. Sie waren völlig in das Gespräch vertieft, die Zeit schien stillzustehen, und alle Ablenkungen waren vergessen. In diesem Zustand der völligen Konzentration und des tiefen Eintauchens in die Aufgabe fanden sie gemeinsam kreative Lösungen für den Konflikt.
Nach einer Weile schlug Lena vor, dass sie das Kunstprojekt in zwei Teile teilen könnten. Jede:r würde seine eigene Vision umsetzen, und beide Teile würden am Ende zu einem Gesamtkunstwerk zusammengefügt. Tim war von der Idee begeistert. Er schlug vor, dass sie ihre unterschiedlichen Stile nutzen könnten, um ein Bild von Dualität und Harmonie zu schaffen.
Am Ende der Mediation verließen alle vier die Aula mit einem Gefühl der Zufriedenheit und des Erfolgs. Sie hatten nicht nur einen Konflikt gelöst, sondern auch die Kraft des Flow-Zustands erlebt, der sie zu kreativen und konstruktiven Lösungen geführt hatte.
Wie siehst du den Zusammenhang zwischen Kreativität, Flow und Mediation?
Fragt interessiert Christa Schäfer
Übrigens
Hinweisen möchte ich an dieser Stelle auch auf ein „Schokobonbon-Experiment“, das ich vor einiger Zeit in einer Willkommensklasse einer Grundschule durchführte. Neben dem Begriff der Gerechtigkeit, den sich die Schüler:innen durch ihre Aufgabe erarbeitet haben, wurde hier auch ein kreativer Problemlöseprozess durchlaufen, ein kreativer Prozesse zur Lösung eines Problems. Lies gerne mehr dazu …