Von klein auf konfliktstark: Achtsame Konfliktlösefähigkeit fördern
Konflikte gehören zum Alltag – und das nicht nur bei Erwachsenen, sondern bereits bei den Jüngsten unter uns. Von der Kita bis zur Oberschule treten immer wieder Situationen auf, in denen Kinder lernen können, ihre Bedürfnisse zu äußern, mit Gefühlen umzugehen und gemeinsam Lösungen zu finden. Wie schaffen wir es, diese wertvolle Kompetenz früh zu fördern? Die Antworten liegen in der bedürfnisorientierten Pädagogik und der Achtsamkeit. Doch was genau bedeutet das, und warum sind diese Ansätze gerade jetzt so wichtig? In diesem Artikel zeige ich dir, wie achtsame Erziehung und bedürfnisorientierte Pädagogik Kindern helfen, konfliktstark durchs Leben zu gehen – und wie Mediator:innen diese Erkenntnisse nutzen können.
Inhalt
Bedürfnisorientierte Pädagogik: Die Basis für starke Kinder
Bedürfnisorientierte Pädagogik klingt vielleicht kompliziert, ist aber im Kern einfach: Sie nimmt die emotionalen, physischen und sozialen Bedürfnisse von Kindern ernst und stellt diese in den Mittelpunkt der Erziehung. Bekannt wurde dieser Ansatz bereits in den 1980er Jahren als „Attachment Parenting“ oder bindungsorientierte Erziehung, gestützt auf die Erkenntnisse der Bindungstheorie. Ziel ist es, stabile, gesunde Bindungen zwischen Kind und Bezugspersonen zu fördern – und das beginnt bereits im Babyalter.
Wie sieht die Bedürfnisorientierte Pädagogik konkret aus? Eltern und Erziehende achten auf die Signale des Kindes, gehen empathisch darauf ein und schaffen eine Umgebung, in der das Kind sich sicher und geborgen fühlt. Das hört sich nicht nur liebevoll an, es ist auch wissenschaftlich belegt: Kinder, die in einem solchen Umfeld aufwachsen, entwickeln sich emotional stabiler und sozial kompetenter. In den letzten Jahren ist dieser Ansatz immer mehr in den Kita-Alltag integriert worden – unterstützt durch wissenschaftliche Literatur, die die positiven Auswirkungen bestätigt.
Die Verbindung von Bedürfnisorientierung und Mediation
Was hat all das mit Mediation zu tun? Ganz einfach: In der Bedürfnisorientierten Pädagogik und in der Mediation spielen die Bedürfnisse der Beteiligten eine zentrale Rolle. In der Pädagogik geht es darum, die individuellen Bedürfnisse der Kinder zu erkennen und darauf zu reagieren. In der Mediation ist es ähnlich: Hier sind Bedürfnisse der Schlüssel zur Lösung von Konflikten.
Wenn wir die Bedürfnisse hinter dem Verhalten eines Kindes – oder einer Konfliktpartei in einer Mediation – verstehen, können wir nachhaltige Lösungen entwickeln, die beide Seiten zufriedenstellen. Ein Beispiel: Ein Kind, das aggressiv reagiert, weil ihm ein Spielzeug weggenommen wurde, zeigt nicht nur Wut, sondern auch das Bedürfnis nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Indem wir diese Bedürfnisse ansprechen, können wir dem Kind helfen, sich verstanden zu fühlen und ihm Alternativen aufzeigen, wie es mit der Situation umgehen kann.
Drei Grundpfeiler der Bedürfnisorientierten Pädagogik
Die bedürfnisorientierte Pädagogik basiert auf drei zentralen Elementen: Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen. Kinder haben von Anfang an das Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und emotionaler Nähe. Sie entwickeln erst im Laufe der Zeit die Fähigkeit, ihre Gefühle zu benennen, zu regulieren, und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern. Hier kommen wir als Erwachsene ins Spiel, denn wir unterstützen die Kinder bei diesen Entwicklungsaufgaben.
Eine zentrale Rolle spielen dabei auch die Grenzen – sowohl die der Kinder als auch die der Erwachsenen. Ein häufiger Fehler ist es, zu glauben, dass bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet, Kindern alle Freiheiten zu geben. Im Gegenteil: Klare und freundlich kommunizierte Grenzen sind unerlässlich. Nur wenn Kinder lernen, „Nein“ zu sagen und sich zu beschweren, lernen sie auch, ihre eigenen Grenzen zu vertreten. Das ist eine Lektion, die sowohl in der Erziehung als auch in der Mediation von unschätzbarem Wert ist.
Konflikte verstehen: Die Gehirnentwicklung von Kindern
Konflikte beginnen oft schon im Kleinkindalter. Kinder schreien, treten um sich oder schnappen sich Gegenstände – für uns Erwachsene manchmal schwer zu verstehen. Doch solche Verhaltensweisen sind nicht willkürlich. Sie sind vielmehr Ausdruck der kindlichen Gehirnentwicklung. In den ersten Lebensjahren denken Kinder sehr egozentrisch. Empathie und die Möglichkeit zur Perspektivübernahme, also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, entwickelt sich erst langsam. Erst ab einem Alter von etwa drei Jahren beginnen Kinder, ihre Gefühle besser zu regulieren.
Wenn also ein Kleinkind wütend wird, weil ihm ein Spielzeug weggenommen wurde, erlebt es diesen Moment als echte Bedrohung. Es reagiert instinktiv und versucht, die Situation zu kontrollieren. Unsere Aufgabe als Erziehende ist es, das Kind zu begleiten, ihm zu zeigen, wie es mit diesem Stress umgehen kann, und ihm zu helfen, seine Emotionen zu regulieren. Dies ist der erste Schritt zu einer gesunden Konfliktfähigkeit: Von klein auf konfliktstark.
Achtsamer Konfliktumgang mit Kita-Kinder
Hier kommt Achtsamkeit ins Spiel. Achtsamkeit bedeutet, den Moment bewusst wahrzunehmen, ohne ihn zu bewerten. Für Kinder kann dies ein mächtiges Werkzeug sein, um ihre Gefühle und Bedürfnisse besser zu verstehen und zu regulieren. Achtsamkeitsübungen, wie sie zum Beispiel in Kitas und Schulen zunehmend angewendet werden, fördern nicht nur die innere Ruhe, sondern helfen auch dabei, Konflikte auf eine gesunde Weise zu lösen.
Eine Achtsamkeitsübung mit den Kleinen zur Gefühlsregulation
„Ich spür den Atem tief in mir,
das tut mir gut, das sag ich dir.
Er gibt mir Kraft zum Hüpfen, Singen,
drum kann mir vieles gut gelingen.
Doch manchmal brauch ich einfach Ruh,
dann mach ich nur die Augen zu.
Ich atme aus und wieder ein
und fühl mich ganz bei mir daheim.“
Quelle: Bücken-Schaal, Monika: Gib auf dich acht!
30 Spielverse und Rituale zur Achtsamkeit. Don Bosco. 2016
Solche einfachen Übungen und Verse, die Kinder dazu anregen, ihre Atmung und ihre Gefühle bewusst wahrzunehmen, können in stressigen Situationen für Entspannung sorgen. Solche spielerischen Rituale helfen Kindern, sich zu erden und achtsam mit sich selbst und anderen umzugehen. Und indem sie Gefühle und Bedürfnisse ins Zentraum stellen, helfen sie auch dabei, von klein auf konfliktfähig zu werden.
Achtsamer Konfliktumgang in der Grundschule
In der Grundschule verändert sich die Art der Konflikte. Die Kinder haben zunehmend das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Freundschaften werden wichtiger, und damit wachsen auch die Konflikte. Besitzstreitigkeiten, Freundschaften oder Ungerechtigkeiten stehen oft im Mittelpunkt. Hier helfen strukturierte Konfliktlösungsmethoden, wie zum Beispiel die „Friedenstreppe“, bei der Kinder Schritt für Schritt lernen, ihre Konflikte eigenständig zu lösen.
Aber auch Fantasiereisen und Achtsamkeitsübungen sind hier ein wertvolles Werkzeug. Sie helfen den Kindern, ihre Emotionen zu erkennen und zu benennen, bevor diese in Konflikten eskalieren. Fantasiereisen wie „Die Meereswelle“, bei der die Kinder ihre Atmung im Rhythmus von Wellen visualisieren, unterstützen sie dabei, in stressigen Momenten ruhig bleiben zu können.
Fantasiereise für Grundschüler:innen in stressigen Momenten
„Die Meereswelle“
„Nehmt wie immer freundlich Euren Atem wahr. Stellt Euch doch einmal einen Meeresstrand vor, an dem Wellen sanft auflaufen und sich wieder zurückziehen. Vielleicht sitzt Ihr im feinen Sand und schaut auf dieses beruhigende Hin und Her der Wellen. Das Ein und Aus Eures Atems scheint im Rhythmus der Wellen zu sein. Ihr fühlt Euch verbunden mit diesen sanften Wellenbewegungen. Es ist, als würdet Ihr mit Eurem Atem die Wellenbewegungen unterstützen. Wenn Euch das nicht gleich gelingt, dann bleibt einfach nur bei dem Bild des Meeresstrandes. Immer wenn Eure Gedanken irgendwohin wandern, holt Ihr sie wieder zur Wellenbewegung zurück.“
Quelle: Vera Kaltwasser: Kartenset Achtsamkeit in der Schule. Beltz 2020.
Wellen sind ein wunderbares Bild, was nicht nur im Grundschulalter, sondern in allen Altersstufen unterstützt, den Atem fließen lassen. Darum wunderbar, wenn dieses Bild bereits im Schulkontext den Weg zu den Kindern findet.
Achtsamer Konfliktumgang im Jugendalter
Mit dem Eintritt in die Oberschule verschieben sich die Prioritäten bei den Bedürfnisse der Jugendlichen erneut. Der Wunsch nach Autonomie, Identitätsfindung und Anerkennung wird immer stärker. Konflikte entstehen oft durch das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung. Das Nachdenken über eigene Konflikte wird wichtig, am liebsten mit der besten Freundin oder einem Freund.
Achtsamkeit kann jedoch auch hier helfen, beispielsweise bei der Bewältigung des „inneren Kritikers“, der Jugendlichen oft das Gefühl gibt, nie gut genug zu sein. Hier können Achtsamkeitsübungen also auch für eine Entspannung bei inneren Konflikten eingesetzt werden.
Eine Achtsamkeitsübung zum inneren Kritiker
„Euer Atem geht sanft ein und aus. Seid Ihr bereit mal einen guten Bekannten näher unter die Lupe zu nehmen? Ihr kennt ihn ziemlich genau: Es ist der innere Kritiker, mal ist seine Stimme leise bohrend, mal laut polternd, aber immer unangenehm. Ja – er will nur Euer Bestes, dieser Antreiber, aber eines ist ihm klar: Ihr seid nie gut genug! Es gibt immer was zu verändern, er nennt es verbessern. Hört mal genau hin! Alle seine Sätze beginnen mit DU! Schreit er Euch laut ins Ohr oder spricht er ernst und bedeutsam, jedes Wort gewichtig betonend? Wie sieht er denn aus – dieser innere Kritiker? Manche nennen ihn auch den inneren Richter, der alles bewertet, was ihr tut, der Fehler findet, Unzulänglichkeiten aufdeckt und der nie schläft. Könnt Ihr ihn vor Euch sehen? Wie sieht er aus? Schaut ihn Euch genau an, vielleicht hält er Euch gerade eine Rede, was noch alles zu tun ist, was Ihr wieder nicht geschafft habt, was Ihr immer noch nicht könnt. Nach der Übung könnt ihr einige Kritikersätze aufschreiben und Sätze, die man ihm entgegenschmettern könnte.“
Quelle: Vera Kaltwasser: Kartenset Achtsamkeit in der Schule. Beltz 2020.
Indem Jugendliche lernen, achtsam mit sich selbst und ihren Bedürfnissen umzugehen, entwickeln sie die Fähigkeit, ihre Konflikte auf einer tieferen Ebene zu lösen – nicht nur in der Schule, sondern auch in ihrem privaten Leben.
Fazit
Bedürfnisorientierte Pädagogik und Achtsamkeit gehen Hand in Hand, wenn es darum geht, Kinder konfliktstark zu machen. Indem wir Kinder von klein auf darin unterstützen, ihre Bedürfnisse zu erkennen und achtsam mit sich und anderen umzugehen, legen wir den Grundstein für eine gesunde Konfliktkultur. Diese Ansätze sind nicht nur in der Pädagogik, sondern auch in der Mediation von unschätzbarem Wert. Sie zeigen uns, dass Konfliktfähigkeit nicht angeboren, sondern erlernbar ist – und dass Achtsamkeit ein Schlüssel dazu ist.
Zur Entstehung dieses Blogartikels
Im Rahmen des Mediationsfestivals des Bundesverbandes Mediation 2024 in Hanau hatte ich das Vergnügen, den Workshop „Von klein auf konfliktstark. Achtsame Konfliktfähigkeit fördern“ zu leiten. Dieser Workshop stieß auf großes Interesse und war ein voller Erfolg bei den Teilnehmenden. Besonders die praxisnahen Ansätze und Übungen, die sich auf Achtsamkeit und Konfliktbearbeitung in verschiedenen Altersstufen – von der Kita über die Grundschule bis hin zur Oberschule – konzentrierten, waren beeindruckend und äußerst wirkungsvoll.
Die Kombination aus Theorie und praktischen Anwendungen war dabei besonders wertvoll. Die Übungen boten konkrete Hilfestellungen, wie Kinder in unterschiedlichen Altersgruppen achtsam mit Konflikten umgehen können.
Aufgrund des großen Erfolgs und der positiven Rückmeldungen möchte ich hiermit zunächst das Theoriegebäude dieses Workshops in schriftlicher Form festhalten. Der Praxisanteil folgt bei nächster Gelegenheit intensiv, voraussichtlich beim Schulmediationskongress 2025 – mal sehen, was sich bis dahin noch entwickelt!
Viele Grüße von Christa Schäfer